Eine Wundertüte oder alles inklusive – Das Leben mit einem behinderten Kind
Wenn jemand ein Kind erwartet und man beispielsweise nach Geschlechtswünschen fragt, heißt es oft „Hauptsache, gesund“. Klar, dieser Satz kommt einem ganz logisch vor und entspricht wohl erst einmal den Wünschen aller Eltern, aber müsste es nicht dennoch eigentlich „Hauptsache, geliebt“ heißen wie Sandra Roth in dem Buch „Lotta Wundertüte“ schreibt? Auf jeden Fall kommt man immer mehr zu der Überzeugung, dass dieser Satz der passendere ist, wenn man die Bücher „Lotta Wundertüte – Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl“ sowie „Alles inklusive – Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter“ von Mareice Kaiser liest.
„Alles inklusive“ ist gerade erst heraus gekommen und ich habe es in einem Rutsch gelesen. In dem Buch schreibt Mareice Kaiser über ihr Leben als Mutter, als Mutter eines mehrfach behinderten Kindes und einer weiteren Tochter. Mareice Kaiser sieht ihre Tochter Greta das erste Mal auf der Intensivstation. Erst nach der Geburt erfahren die Eltern von dem seltenen Chromosomenfehler ihrer Tochter. Eine Diagnose gibt es natürlich noch längst nicht und für die Eltern beginnt eine schwierige Zeit. Keiner sagt ihnen, was los ist, alles ist anders, als man es erwartet hat und es wird auch so schnell nicht besser. Ständig geht es zu Ärzten, man bekommt verschiedene, auch falsche, Diagnosen. Viele verschiedene Emotionen sind in dem Buch spürbar: Ängste, Hoffnungen, Traurigkeit, aber immer wieder auch Freude und vor allem Liebe. Ja, es gibt Zweifel. Greta ist behindert, sie ist nicht wie andere Kinder. Man will es nicht wahrhaben, hat sich ein solches Leben nicht vorgestellt.
Es ist schwierig, sich von seinen Vorstellungen vom perfekten Familienleben zu lösen, andere Wege einzuschlagen, ein anderes Leben zu akzeptieren. Natürlich möchte man nicht seine Ideen und Wünsche vom Leben auf die Kinder projizieren, aber schön wäre es ja schon, wenn sie manche Interessen teilen. So liebe ich es mich mit meinen Kindern mit Büchern zu beschäftigen und Mareice Kaiser hätte gerne ihre Musikleidenschaft mit ihrer erstgeborenen Tochter geteilt, ihr die Liebe zur Musik gerne weitergegeben, aber all diese Vorstellungen und Wünsche brechen in dem Moment zusammen, in dem klar wird, dass Greta gehörlos ist. Es ist nur ein Teil dessen, was die Eltern lernen müssen zu akzeptieren und als Leser kann man sich nur ansatzweise vorstellen, wie dies sein muss.
Man liest von vielen Gefühlen und Erlebnissen und man wird sehr stark von diesem Buch berührt, aber letztendlich kann man die Situation in der Mareice Kaiser und ihre Familie sich befindet nur erahnen. Mittlerweile hat mich das Leben gelehrt, dass man alles, was man nicht selbst erlebt hat, nur in den Grundzügen verstehen kann, aber wie es den Menschen in der Situation wirklich geht, erfährt man erst, wenn man selbst in eine solche Situation kommt. Dennoch ist es wichtig, dass es diese Bücher gibt, dass man etwas von den Emotionen Betroffener erfährt, die einen sensibler werden lassen und uns offener und achtsamer für andere Menschen machen.
Vor allem kann es aber auch Mut machen. Mareice Kaiser oder auch Sandra Roth sind keine Heiligen. Sie haben Zweifel und Ängste. Sie haben sich kein behindertes Kind gewünscht, aber sie nehmen es an, denn sie lieben ihr Kind.
Mir gefällt sehr gut, wie ehrlich und schonungslos in den Büchern erzählt wird. Mareice Kaiser spricht beispielsweise auch von ihrem Wunsch nach einem zweiten Kind, einem gesunden Kind. Vielleicht stolpert man erst kurz über diesen Wunsch, aber dann wird einem sofort klar, dass dies absolut nicht verwerflich ist. Warum auch? Gibt es nicht auch genügend Menschen, die sich voller Liebe zu ihren Söhnen noch eine Tochter wünschen oder umgekehrt? Dass man sich ein weiteres, ein gesundes Kind wünscht, wenn man bereits ein Kind mit Behinderungen hat, heißt also keineswegs, dass man dieses Kind nicht annimmt und liebt.
Hat man ein mehrfach behindertes Kind, so sorgt man sich nicht nur darum, wie es in Zukunft weiter geht, sondern es geht auch oft schlichtweg ums Leben des Kindes. Krankenhausbesuche, Ärzte und Therapeuten gehören schon beinahe zum Alltag, genauso wie die vielen Sorgen, die man sich natürlich macht. Besonders schlimm finde ich es, dass Familien, die Hilfe benötigen (z.B. in Form von Hilfsmitteln im Alltag oder Begleitern im Kindergarten o.ä.), so viele Hindernisse in den Weg gelegt werden. Die Familien leisten unglaublich viel. Sie wurden nicht gefragt, ob sie sich dieser Herausforderung gewachsen fühlen, aber wenn es sein muss, dann schafft man vieles, doch vieles würde noch besser klappen, wenn man nicht ständig Kämpfe mit Krankenkassen etc. ausfechten müsste, wenn man Tipps und Hilfen ohne großen Aufwand erhalten würde. Das Buch macht darauf aufmerksam, dass in Deutschland in diesem Punkt einiges falsch läuft.
Vieles in dem Buch „Alles inklusive“ hat mich an das Buch „Lotta Wundertüte“ erinnert, welches ich vor einiger Zeit bereits gelesen habe und welches ich mir nun noch einmal zur Hand genommen habe. Sandra Roth hat ebenfalls eine schwerbehinderte Tochter, Lotta, und sie erzählt genauso von ihrem Alltag. Auch wenn es natürlich um ein anderes Schicksal geht, so deckt sich vieles mit Mareice Kaisers Erfahrungen. So dauert es beispielsweise etwa ein Jahr bis es einen Integrationshelfer für den Kindergarten gibt. Niemand fühlt sich zuständig, erst einmal wird alles abgewiesen. Immer müssen die Eltern für ihr Recht und das Recht der Kinder kämpfen.
Richtig ärgerlich bin ich in beiden Büchern an den Stellen geworden, in denen sich die Eltern Kommentare wie „Muss das heute noch sein?“ o.ä. anhören müssen, aber das scheint bei den heutigen medizinischen Möglichkeiten eine gängige Frage zu sein. Für mich einfach nur unmöglich. Jeder muss selber wissen, wie er zu Tests in der Schwangerschaft und Abtreibungen steht, aber jeder Mensch hat erst einmal das Recht aufs Leben. Kämpft sich ein Kind mit schlechten Voraussetzungen ins Leben, dann ist es erst einmal natürlich, dass es lebt. In der Gesellschaft scheint aber vom Gegenteil ausgegangen zu werden. Es ist eine Ausnahme, wenn ein behindertes Kind leben darf. Man wundert sich darüber, dass ein solches Kind auf der Welt ist. Das ist doch verrückt! Ist da nicht irgendetwas in Schieflage geraten? Ist das wirklich unser Menschenbild?
Mich haben beide Bücher auf jeden Fall sehr berührt und sie beschäftigen mich auch über das Lesen hinaus. Man spürt, dass dies wichtige Bücher sind, aber warum sind sie es? Sie geben einen sehr guten Einblick in den Alltag mit einem behinderten Kind, es werden sowohl Schwierigkeiten, als auch Glücksmomente benannt. Die Bücher können Mut machen, wenn man sich aus verschiedenen Gründen ähnlichen Fragen (z.B. in Bezug auf Tests in der Schwangerschaft) stellen muss.
Die Bücher regen dazu an, sich dem Thema Inklusion zu widmen. Ich weiß selbst noch nicht genau, wie ich zu diesem Thema in einzelnen Bereichen bzw. zur Umsetzung der Inklusion stehe, aber die Bücher machen klar, dass es wichtig ist, dass Behinderte sichtbarer werden und es natürlich sein sollte, dass sie überall dabei sind. Die meisten Menschen kennen kaum Menschen mit Behinderungen und so wie die Gesellschaft mit ihnen und ihren Familien umgeht, wundert es einen auch nicht sonderlich, dass man kaum Begegnungen mit ihnen hat. Andererseits entstehen auf diese Weise auch falsche Vorstellungen und Hemmungen. Und genau hier sehe ich auch ein ganz starkes Argument für diese beiden Bücher. Sie können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Hemmungen und Vorurteile abgebaut werden. Durch die Bücher wird das Thema konkreter und greifbarer und man lernt nicht nur die Behinderung, sondern vor allem den Menschen zu sehen. Ja, Greta und Lotta sind schwerbehindert, aber dies ist nur eine von vielen Eigenschaften. Sie sind noch so viel mehr und vor allem sind sie in erster Linie einfach Kinder. Diese Blickrichtung können wir von ihren liebenden Müttern lernen.
Wie schafft man es als erstes den Menschen zu sehen? Dies funktioniert über Beziehungen und Geschichten. In diesem Fall bauen wir über die Bücher eine Art Beziehung zu Greta und Lotta auf. Als aufgeschlossener Mensch möchte man offen und tolerant sein, aber ist es nicht dennoch so, dass man in seinen Gedanken immer wieder diskriminierende Elemente entdecken kann oder dass man Vorurteile hat? Diese können in direkten Begegnungen (oder auch indirekten Begegnungen, also z.B. über das Medium Buch) abgebaut werden. Ständig hat man beispielsweise etwas über Flüchtlinge gehört, aber sie bekommen erst durch Reportagen über einzelne Schicksale ein Gesicht. Oder der eine oder andere weiß nicht, was er über gleichgeschlechtliche Paare denken soll, sobald man dann aber ein solches Paar kennen gelernt hat und dieses als humorvoll, nett, interessant u.ä. wahrnimmt, sieht man als erstes die Menschen mit ihren vielen verschiedenen Eigenschaften und nicht mehr diese eine Eigenschaft, mit der man noch nicht groß in Berührung gekommen ist.
Die Bücher schaffen es, dass Hemmungen und Vorurteile abgebaut werden. Greta und Lotta sind in erster Linie Menschen, die eben eine besonders außergewöhnliche Eigenschaft haben. Man interessiert sich für Greta und Lotta und man möchte einfach wissen, wie es ihnen geht. Es ist spannend etwas über ihr Leben zu erfahren und gleichzeitig fängt man bei der Lektüre dieser Bücher an ganz viel nachzudenken. Muss jemand etwas leisten können um ein Teil der Gesellschaft zu sein? Warum reicht es nicht einfach zu sein und andere mit seinem Sein und seiner Anwesenheit glücklich zu machen? Ich muss zugeben, dass ich mir nie groß Gedanken über unsere Leistungsgesellschaft gemacht habe, aber seitdem ich Kinder habe, merke ich langsam, dass es im Leben immer auf Leistung ankommt. Zwar habe ich zu Bücherwürmchen gesagt „das Leben ist kein Wettbewerb“, woraufhin er ergänzte, dass das wichtigste sei, dass man fröhlich sei, aber stimmt das? Je mehr es Richtung Schule geht, desto mehr geht es um Leistung. Vor Kurzem hat Bücherwürmchen sein Seepferdchen gemacht. Es war das erste Mal, dass eine Leistung in einer Art Test gemessen wurde, und das erste Mal, dass er bewusst mitbekam, dass andere etwas schaffen, man selbst aber (noch) nicht. Und so wird es immer wieder sein. Irgendwann machen Kinder immer weniger das, was ihnen Spaß macht, sondern das, was sie gut können und wo sie Anerkennung bekommen. Wo bleiben die Kinder, die da nicht mithalten können? Richten wir unseren Blick wirklich auf das Richtige? Übersehen wir das, worauf es eigentlich ankommen sollte?
Beide Bücher bieten so viele Themen, über die man nachdenken und reflektieren sollte. Sie werfen Fragen des Lebens auf und zwar längst nicht nur für Familien mit behinderten Kindern. Es sind Fragen, die alle etwas angehen, Fragen, die unsere Gesellschaft ausmachen.
Ich hoffe sehr, dass ich es in Zukunft schaffen werde, mit Menschen mit Behinderung natürlich umzugehen, und vor allem, dass es normal sein wird, wenn ich ihnen in allen Bereichen des Lebens begegnen werde.
Alles inklusive – Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter von Mareice Kaiser, FISCHER Taschenbuch, ISBN: 978-3-596-29606-4, 14,99
Lotta Wundertüte – Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl von Sandra Roth, Kiepenheuer & Witsch, ISBN: 978-3-462-04566-6, 18,99€ (es gibt aber auch eine Taschenbuchausgabe mit zusätzlichem Kapitel)
Oh liebe Miri, danke für die tolle und gefühlvolle Buchvorstellung.
Beide Bücher sind direkt auf meine Wunschliste gewandert 🙂
Liebe Grüße
Anja
Sie werden dir bestimmt gefallen. Ich kann mich gar nicht richtig von ihnen lösen.
Ein sehr bewegendes Thema. Über die Aussage “Hauptsache gesund” habe ich auch in dem Zusammenhang oft nachgedacht und für mich “Hauptsache glücklich” gedacht, was ja “geliebt” einschließt.
Die SI Uniklausur habe ich über das Thema “das Fremde und Andere in der Kinder-und Jugendliteratur” geschrieben. Da hatte ich als Beispiele “Ben lacht”, “Gänseblümchen für Christine” und “die vorstadtkrokodile”. Die beiden vorgestellten Bücher finde ich sehr interessant, auch in dem Zusammenhang und mit Blick auf dem Umgang mit Behinderungen im Zuge der Inklusion.
LG
Lena
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