Rezension: Wolf
(Werbung/Rezensionsexemplar) Ward ihr als Kind in einem Ferienlager? Wie hat es euch gefallen?
Ich war als Kind und später auch als Betreuerin auf Ferienfreizeiten und habe sie geliebt. Es gibt ein paar Kinderbücher, in denen Ferienlager vorkommen, aber in vielen ist es tatsächlich so, dass die Hauptfigur dort nur gezwungen hinfährt und dann auch nicht dort bleiben möchte. Als mir das Buch „Wolf“ von Saša Stanišić vorgestellt wurde, dachte ich zunächst einmal „ach, wie schade, schon wieder ein negatives Ferienlager-Ereignis“. Aber dieses Buch ist anders.
Anderssein im Ferienlager
Doch, ja, es beginnt auch damit, dass der Erzähler, absolut gar keine Lust auf das Ferienlager hat. Noch dazu ist es im Wald. Und er ist gegen Natur und auch gegen einiges andere. Außerdem ist er anders als die anderen und hat keine Lust auf die Gruppe. Er wird von den anderen Kindern/Jugendlichen jedoch in Ruhe gelassen, denn Jörg wird von ihnen, insbesondere von Marko und seinen zwei ergebenen Kumpels den Zwillingen Dreschke, „andersiger“ gemacht und gemobbt. Der Erzähler beobachtet dies und er weiß, dass es so nicht weitergehen darf. Er weiß, er müsste etwas unternehmen, doch der Mut fehlt. Auch die Betreuer:innen schauen weg und geben nur ein paar wage Tipps. Sie sind mehr mit sich selbst beschäftigt und scheinen wenig Lust dazu zu haben, sich mit den Problemen der ihnen anvertrauten Kinder auseinanderzusetzen.
Nicht nur Gut und Böse, sondern viele Zwischentöne
Richtig gut gefällt mir an dem Buch, dass es zwar auf der einen Seite ganz klar falsches Verhalten gibt (z.B. natürlich das Mobbing sowie das Nichthandeln der Betreuenden), aber auf der anderen Seite verläuft vieles auch schwammig und ambivalent. Der Erzähler hat überhaupt keinen Bock auf das Ferienlager, trotzdem kommt ein wenig Ferienlager-Stimmung auf. Er ist ein Rebell und stellt sich an vielen Stellen quer, aber er gewinnt die Sympathien der Lesenden. Und das obwohl er ebenfalls so oft nicht den Mut aufbringt, sich für Jörg einzusetzen. Ihn im Stich lässt, aber dann irgendwie doch auch nicht so ganz. Und man versteht ihn nur zu gut. Es ist nicht leicht in einer Gruppe mutig zu sein, sich für jemanden, der an den Rand gedrängt wird einzusetzen. Vor allem dann nicht, wenn man ansonsten womöglich selbst das Opfer werden würde. Es ist alles so gut nachvollziehbar und trotzdem hofft man, dass der Mut irgendwann ausreicht. Man wünscht sich eine Lösung, ein Einstehen, einen Zusammenhalt und ein Handeln. Von irgendjemanden. Am liebsten von den Betreuungspersonen, die doch Vorbilder sein sollten und verantwortlich sind.
Viele Denkanregungen und Berührungspunkte
Es ist ein Buch, das zum Nachdenken anregt und das berührt. Ein Buch, das einem sehr nahe kommt und bei dem man die Szenen direkt vor sich sieht. Genauso auch wie die Figuren. Wer kennt nicht einen Jörg oder einen Marko? Oder irgendwelche Erwachsenen, die sich vor der Verantwortung drücken? Wo steht man selbst in einer Gruppe? Es ist schade, dass die Betreuenden hier so wenig Engagement zeigen, denn das ist natürlich kein stellvertretendes Verhalten von Betreuer:innen in Ferienlager, aber dennoch kann man sich diese Typen gut vorstellen. Letztendlich ist das Ferienlager hier auch nur der Rahmen. Ein Rahmen für eine Gruppe, die aufeinander angewiesen ist, die sich finden muss, in der es verschiedene Rollen gibt. Wie bilden sich Freundschaften? Wie kann man sich gegenseitig helfen? Welche Gruppendynamiken gibt es? Inwiefern kann man anders und dennoch akzeptiert sein? All dies lässt sich natürlich gerade anhand eines Ferienlagers, das über eine gewisse Zeit geht und in dem es eine feste Gruppe gibt, gut zeigen.
Illustriert wurde das Buch von Regina Kehn und ich finde, dass die Bilder, die Botschaften und Szenen des Buches ganz wunderbar verbildlichen. Sie nehmen die Atmosphäre des Textes auf und zeigen uns das, was wir vielleicht beim Lesen nur unbewusst aufnehmen.
Dieses Buch sollte man unbedingt selber lesen. Ich empfehle es etwa ab 12 Jahren.
Wolf von Saša Stanišić, illustriert von Regina Kehn, Carlsen Verlag, ISBN: 978-3-551-65204-1, 14 €